Rollen oder Schlagen?

Überlegungen zu einer Grundaufgabe der Typografie
Mögen Sie den Film »Casablanca«? Wenn nicht, nehmen Sie für die folgende Überlegung einen Film, den Sie mögen. Gesetzt den Fall Sie möchten sich noch einmal die Szene mit dem berühmten Satz »Ich schau dir in die Augen« ansehen. Was tun Sie? Suchen Sie das Zitat im Internet und geben in der Videosteuerung des Films die genaue Position 1:33:39 (oder 1:37:41 je nach Fassung) ein, um exakt diesen Spruch zu Gesicht zu bekommen? Nein? Sie steuern stattdessen grob den Schluss des Films mit der Szene an und lassen sich erneut vom Filmgeschehen in Bann ziehen – und entdecken, dass der Satz doch ein wenig anders fällt, als in Ihrer Erinnerung? Und außerdem haben Sie inzwischen fast 20 Minuten des Films erneut angeschaut? Dann sind wir beim Thema. Rollen oder Schlagen.


Ein Film dauert 90 Minuten, möchte ich in bewusstem Anklang an Fußball-Zitate sagen. Man nimmt sich eine gewisse Zeit dafür. Man lässt sich darauf ein, dass sich der Stoff entwickelt, man die handelnden Personen kennenlernt, auch mancher Umweg gegangen wird, der sich später vielleicht als zentral herausstellt. Und man konzentriert sich in gewisser Weise. Ablenkende Dinge drumherum werden reduziert. Auch wirklich niemand käme auf die Idee, dass irgendwo im Filmbild ständig eingeblendet würde, an welcher Position (Fortschrittsbalken) oder Filmminute man sich befindet. Das wäre dem Filmgenuss abträglich.
Und an dieser Stelle möchte ich den Blick schwenken auf ein anderes Medium: Das Buch. Genauer noch: Das Buch der Bücher.
Inhaltlich stecken im Text dieses Buches viele Filme, spannende und langweilige: Erzählungen, Dokumentationen, Dramen, Parabeln und Gleichnisse, langweilige Historien und Listen, Gesetzestexte ebenso wie aufrüttelnde Katastrophen, Entwicklungs- und Charakterstudien, Sprichwörter und Visionen.

Ich liebe Bücher. Soviel vorweg. Sehr sogar. Aber mir kommen Zweifel, ob das Prinzip des Buches nicht manchmal seinem Inhalt in die Quere kommen kann. Bücher schlagen wir auf - an beliebiger Stelle. Sprache ist manchmal verräterisch: Schlagen? Hier setzt mein Zweifel ein.
Denn was ich in vielen Bibelausgaben der letzten 30 Jahre sehe, ist das Aufschlagen auf die Spitze getrieben:
Dicke Überschriften portionieren mir den Text - ein bisschen wie Chicken McNuggets. Große und fette Zahlen machen es mir möglich, schnell direkt zur angesteuerten Stelle zu finden. Und möglicherweise sind die Verse mit Ziffer sowieso gleich jeweils als eigener Absatz gesetzt. Ein Nachschlagewerk - aber nichts zum Lesen. (Bild 1, 2)

 


Praktisch. Aber Geschichte, Erzählbogen, Spannung oder Überraschung will sich so nicht mehr einstellen. Wir haben es hier mit maximierter referenzierender bzw. konsultierender Leseart zu tun. Aber wer braucht das? Es ist ein Vorzug, Jugendliche dabei erleben zu dürfen, wie sie mit so etwas umgehen. Wenn man ihnen (notabene: ich verallgemeinere freilich unzulässig, ausschließlich um zu pointieren) sagt »Schlage mal Mt 6,33 nach«, dann tun sie genau das und lesen eine steile und vermutlich fett hervorgehobene Aufforderung. Den Text davor lesen sie möglicherweise nicht. Und bekommen so eine falsche Vorstellung. Wer so »Casablanca« anschauen würde, hätte den schlechtesten Eindruck und nichts vom Film. Mal ganz abgesehen davon, dass Papier, Schriftgröße und Schriftart, Proportionen usw. in vielen so günstig ausgegebenen Bibelausgaben auch nur zum Nachschlagen und nicht zum Festlesen also linearer Leseart einladen. (Bild 3)



Man muss dazu wissen, dass in ihrem Ursprung die Bibelinhalte doch ganz anders überliefert waren. Nämlich in aller Regel mündlich. Erzählt. Von Menschen, die sicher nicht aufgefordert wurden »sag doch nochmal den 25. Satz deines dritten Abschnitts«. Aufgeschrieben wurden diese Inhalte dann zuerst ohne Punkt und Komma (teils sogar ohne Leerzeichen) und auf Rollen. Also so, dass sie als ein Zusammenhang in die Hand und vors Auge kamen. (Bild 4, 5)

 

 

 

Die Kapiteleinteilung erfolgte erst ab dem 4., endgültig erst im 13. Jahrhundert nach Christus, die weitere Unterteilung in Verse sogar erst im 16. Jahrhundert, als erste wissenschaftliche Ausgaben entstanden. (Bild 6) Die Überschriften in unseren Bibelausgaben sind gar nicht Bestandteil des eigentlichen Textes, sondern im Kern willkürliche Unterteilungen und Ergänzungen, auch wenn sie natürlich ihren Sinn haben. Aber sie geben immer auch eine bestimmte Deutung wieder. Es macht einen großen Unterschied, ob ein und derselbe Abschnitt Der verlorene Sohn oder Der liebende Vater überschrieben wird. Der haptische und als verschiedenes Wahrnehmen erfahrene Unterschied zwischen dem Auf-Rollen einer Schriftrolle und dem Auf-Schlagen eines Buches markiert für mich hier einen Horizont für typografische Entscheidungen: Rollen oder schlagen wir den Text?
Sicher, biblische Texte sind manchmal sperrig. Und sie sind fremd. Sie erschließen sich manchmal erst nach einiger Zeit. Aber das tut »Casablanca« auch. Dem Film geben wir die Zeit. Warum dem Text nicht?
Fremdheit muss man aushalten. Man muss sie stehen lassen, denn so bleibt auch das Eigene stehen. Im Sich-damit-auseinander-Setzen kann man sich dann auch gegenseitig die Ehre geben.
Wir machen uns aber die Texte verfügbar, wenn wir sie in kleine Häppchen zerschneiden. Wir schlagen auf, statt zu entfalten. Es muss schnell gehen und direkt, ohne Zeit zu verlieren. Dabei verlieren wir aber auch uns selbst als Leser, der nachdenkt und sich auseinandersetzt. Häppchen werden gegeben und geschluckt. Ist es aber nicht erwachsener, sein Essen selbst zu zerlegen? Und befriedigender?
Allzu vor-zerlegte Texte verlieren den Kontext, er verschwindet aus dem Blickfeld. Die aufgeschlagenen Worte haben keine Rolle mehr und unsere Rolle dem Text gegenüber wird unklar. Schläger vielleicht? Aber ein geschlagener Text schlägt zurück. Bei der Bibel ist das so.
Die Schriftrolle oder ein fortlaufender Text erinnern dagegen immer daran, dass da noch mehr ist, und dass wir nur einen Teil sehen.
Der Leser muss sich dann seinen Ausschnitt selbst suchen, zurechtschneiden - aber er wird sich dabei viel mehr seiner eigenen Rolle bewusst, er ist eigentlich aktiver. Und er bemerkt viel eher die Fragmentarität des Gelesenen. Das ist gut. Beide, Leser und Text behalten ihre Ehre.
Der Leser darf suchen, darf sich fragen, wundern, zweifeln: »Ist das das letzte Wort dazu?« Aufrollen heißt auch entdecken, Nuancen feststellen, Zusammenhänge begreifen. So wie beim Wiederanschauen eines Films. Eigentlich schön, dass Filme in Rollen daherkamen und so klar ist: Man kann nicht so ohne weiteres einen Teil daraus entnehmen und verselbständigen, der Zusammenhang zählt.
Dazu darf der Stoff nicht zu sehr vorzerlegt sein, Hilfsmittel wie Positionsangaben und Ziffern sowie sekundäre Einteilungen sollten sich zurückhalten.

Rollen oder Schlagen? Vielleicht wäre es ein hilfreiches Experiment, ein neuer Zugang, wenn man die Bibel einmal wieder auf Rollen produzieren würde. Nur mit wenigen Zäsuren, die sich im Text klar zeigen, und vielleicht ergänzt um ein dezentes Referenzsystem, das sich nicht in den Vordergrund schiebt.
Aber so radikal muss es ja nicht sein. Es reicht schon, wenn im Buch beim Aufschlagen der zusammenhängende Text im Vordergrund steht, gleichsam eine gedachte Rolle, wenn sofort klar ist: Über diesen Satz, diese Seite hinaus gibt es mehr, was ich jetzt sehe, ist nur ein Teil einer größeren Einheit. Und wenn die Zielmarken fürs Referenzieren nicht groß über den Text herrschen.
Wie gesagt: Ich liebe Bücher. Aber nicht das Schlagen. Die Bibel würde ich in Zukunft gerne aufblättern.